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Die Frau, die mit den Augen spricht

Jessica Wilhelmi, Schulreferentin des Kirchenkreises Leverkusen, Kathrin Lemler, u. a. Rehabilitationswissenschaftlerin und ihr Assistent (von. li.)

Kathrin Lemler per Video zu Besuch am Werner-Heisenberg-Gymnasium

Weil das Sozialpraktikum der 9. Jahrgangstufe am Werner-Heisenberg-Gymnasium wegen der Coronapandemie nicht stattfinden konnte, hat sich Schulpfarrer Heribert Rösner zusammen mit der Schulreferentin des Kirchenkreises, Jessica Wilhelmi, etwas Besonderes überlegt. „Den Schülerinnen und Schülern entgehen hier wichtige Erfahrungen, die sie durch die Begegnungen mit Menschen in verschiedenen sozialen Einrichtungen gemacht hätten. Daher war die Grundidee unseres Projektes, eine Begegnung mit einer in vielerlei Hinsicht außergewöhnlichen Frau zu ermöglichen“, so Jessica Wilhelmi.

Per Zoom in die Klassenzimmer der 9. Jahrgangsstufe zugeschaltet war Kathrin Lemler, 35 Jahre alt. Sie sitzt im Rollstuhl und obwohl ihr Mund in ständiger Bewegung scheint, verfügt sich nicht über eine Lautsprache. Das klingt erst einmal bedrückend. In ihrem Vortrag zündete Lemler dann ein regelrechtes Feuerwerk an Lebensfreude: „Fremde beschreiben mich mit den Worten “schwerbehindert” oder “in allen Lebensbereichen erheblich eingeschränkt”.

„Freunde und Kolleginnen beschreiben mich als quirlige Quasselstrippe oder als ehrgeizigen Workaholic.  Ich selbst beschreibe mich als Rehabilitationswissenschaftlerin mit Masterabschluss, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität zu Köln, Referentin für Unterstützte Kommunikation, Chefin von sieben Assistentinnen und ganz nebenbei auch als eine Frau, die ausschließlich mit den Augen spricht.
Meine Berufung ist die Unterstützte Kommunikation! Ich möchte meine eigenen Erfahrungen mit Fachwissen verknüpfen und so andere nicht sprechende Menschen bei ihrer Suche nach geeigneten Kommunikationsmöglichkeiten unterstützen.“ 

Anhand ihres Sprachcomputers, den sie mit den Augen bedient und ihrer Buchstabentafel, die eine schnellere Verständigung mit ihren Assistentinnen und Assistenten ermöglicht, erklärt Kathrin Lemler, wie sie sich mitteilen und am Computer arbeiten kann. „Wenn man kommunizieren kann, kann man ein selbstbestimmtes Leben führen!“

Kathrin Lemler gelingt es schnell, eine gute Verbindung zu den Klassen herzustellen. Die Schülerinnen und Schüler berichten offen von eigenen Erfahrungen mit Menschen mit Behinderung; in der Familie, im Freundeskreis oder in der Nachbarschaft. „Mich verunsichert das manchmal schon, wenn man nicht so recht weiß, was der andere jetzt verstehen oder mitmachen kann.“, äußert ein Schüler. „Es ist gut, dass du so sensibel bist. Du musst den anderen Menschen kennenlernen. Das ist doch eigentlich immer so,“ ermutigt Kathrin Lemler.

Im Vorfeld haben die Schülerinnen und Schüler schon einige Fragen an Kathrin Lemler gesammelt: „Wobei benötigen Sie Unterstützung?“ „Wie halten Sie Kontakt in Ihrem Freundeskreis?“ „Was machen Sie in Ihrer Freizeit?“ „Wo erleben Sie Diskriminierung?“ Viele davon wurden in einem Vortrag beantwortet. Den Schülerinnen und Schülern präsentierte sie mit Fotos und kurzen Videos einen typischen Tagesablauf (vor Corona). Die Assistenten unterstützen sie beim Aufstehen und Frühstück, begleiten sie beim Einkaufen oder auch zu ihrem Arbeitsplatz an der Kölner Uni. Kathrin Lemler hat einen großen Freundeskreis. Am Lauftreff ihrer Freundinnen nimmt sie im Rollstuhl teil und abends genießt sie ein Live-Konzert in einer Kölner Kneipe zusammen mit ihren Freunden. Mit viel Herz, Humor und Nachsicht begegnet sie den Menschen, die sie bei der ersten Begegnung unterschätzen oder die verwundert anschauen, wenn sie in der Bahn mit ihrem Assistenten über wissenschaftliche Projekte spricht.

Der Vortrag wirft neue Fragen auf und die Schülerinnen und Schüler haben Gelegenheit nochmal nachzuhaken. Kathrin Lemler spricht über alles ganz offen. So erzählt sie, dass sie seit vielen Jahren einen Freund hat, den sie in der Schule kennengelernt hat: „Am Anfang interessierte er sich hauptsächlich für meinen Sprachcomputer.“

Sie hat sich viele Wünsche erfüllt, zum Beispiel einen Gleitschirmflug und zeigt damit, dass viel mehr möglich ist, als Menschen ohne Behinderung sich das vorstellen können. „Die Behinderung entsteht ja durch die Kategorien in unseren Köpfen. Das haben die Schülerinnen und Schüler heute erleben können. Ich glaube, dieses Projekt hat sie wirklich erreicht“ fasst Heribert Rösner die abschließende Diskussion zusammen.

Eins ist Kathrin Lemler in dieser Unterrichtseinheit bestimmt wie schon oft gelungen:  Vorurteile abbauen und Mut machen.